What’s the harm? – Wie die Pseudomedizin schadet

Was schadet es denn, wenn man eine konventionelle Behandlung mit ein paar Globuli ergänzt? Warum nicht Aspirin und Bachblüten bei Kopfschmerzen? „Nutzt’s nix, schad’s nix“, könnte man sagen. Ganz so einfach ist es leider nicht. Die Anwendung von Pseudomedizin, also von Verfahren, die zwar den Anspruch stellen medizinisch wirksam zu sein, bei denen aber kein Nachweis einer solchen Wirkung erbracht werden konnte, bringt eine Reihe praktischer und struktureller Probleme mit sich – auch dort wo die Präparate nicht unmittelbar schädlich sind.

von Dieter Ratz

Diese Probleme sind zum Teil individueller Natur, zum Teil betreffen sie das Gesundheitssystem oder andere gesellschaftliche Aspekte. Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, soll aber zum Nachdenken anregen:

  1. Unmittelbare Schädigung: Zunächst einmal gibt es den unmittelbaren Schaden natürlich doch. Ein relativ bekanntes und drastisches Beispiel ist das angebliche Wundermittel MMS (Miracle Mineral Supplement). Dabei handelt es sich um eine Lösung aus Natriumchlorit (NaClO2), einem Desinfektionsmittel, das von den AnhängerInnen dieser pseudomedizinischen Therapie zur inneren Anwendung, teilweise sogar intravenös, gegen nahezu jede denkbare Krankheit (speziell gegen Malaria) empfohlen wird. 2009 kam es in Australien nach der Einnahme von MMS zu einem Todesfall, in Kanada wurde das Mittel 2010 verboten. Von harmloser Alternativmedizin kann hier keine Rede mehr sein.

    Nicht immer bedeutet Schädigung gleich den Tod. Entgiftungspflaster, die mit dem Versprechen einer „Reinigung des Körpers von Giftstoffen“ über das Internet verkauft werden, sind nicht nur teuer sondern durch den enthaltenen Holzessig auch hautreizend. Abgesehen davon sind sie wirkungslos. Sie enthalten Verbrennungsrückstände, die das Pflaster nach längerem Gebrauch dunkel verfärben. Das soll bei den AnwenderInnen den Eindruck erwecken, dass „Schlacken“ aus dem Körper in das Pflaster diffundiert wären. Tatsächlich sind es aber Bestandteile des Pflasters selbst, die mit dem Schweiß reagieren.Weitere Beispiele für mehr oder weniger schädliche Pseudomedizin finden sich im Bereich der Nahrungsergänzungsmittel. Die Bandbreite geht hier von zweifelhaften Supplementen im Kraftsport bis zur orthomolekularen Medizin, die mit hochdosierten Vitaminen und Mineralstoffen arbeitet. Die Gefährlichkeit liegt hier vor allem im geringen Risikobewusstsein. Vitamine und Mineralstoffe gelten als gesund, das Verständnis für die Dosis-Wirkungs-Beziehung fehlt oft.

    Auch Verfahren der angeblich „sanften“ klassischen Alternativmedizin sind mitunter schädigend. So gibt es zahlreiche dokumentierte Fälle von Schwermetallvergiftungen durch Ayurvedaprodukte oder Vergiftungen, bis hin zu Todesfällen, durch weniger stark verdünnte Präparate der Homöopathie (Arsenicum D6). Zu letzteren trägt vor allem der Mythos bei, die Homöopathie sei ausschließlich hochverdünnte Pflanzenmedizin.

  1. Unterlassene Therapie oder Prophylaxe: Ein großes Problem aller pseudomedizinischen Verfahren ist deren Anwendung bei ernsten Erkrankungen. PatientInnen, die gegen eine Erkältung Globuli schlucken werden, trotz deren Unwirksamkeit, nach einigen Tagen ganz von alleine wieder gesund werden. Anders ist das bei schweren Erkrankungen wie Krebs, wo der Wechsel von evidenzbasierter Medizin zu vermeintlich wirksameren, de facto aber wirkungslosen Alternativverfahren einem Therapieabbruch gleichkommt. Jedes Jahr werden Fälle bekannt, bei denen KrebspatientInnen (teilweise mit guter Prognose) nach Abbruch der Therapie versterben. Jeder einzelne dieser Todesfälle ist unnötig. Der Apple Gründer Steve Jobs ist ein solcher Fall. Jahrelang hatte er sein Krebsleiden mit „alternativen Verfahren“ behandeln lassen und auf einen chirurgischen Eingriff verzichtet. Eine Entscheidung die er in Interviews kurz vor seinem Tod als Fehler bezeichnete. Ob Jobs, heute noch leben würde, ist unklar. Er litt an einer seltenen, allerdings besser therapierbaren Form des Bauchspeicheldrüsenkrebs, dem islet cell neuroendocrine cancer, seine Chancen hätte er aber mit einer frühzeitigen evidenzbasierten Therapie in jedem Fall verbessert.

    Besonders Menschen, die an chronischen, schlecht therapierbaren oder lebensbedrohlichen Krankheiten leiden entscheiden sich für die vermeintliche Alternative zur Medizin. Selbst die beste evidenzbasierte Medizin bedeutet für diese PatientInnen oft langwierige, mit massiven Nebenwirkungen verbundene Behandlungen ohne Garantie auf Erfolg. Den Menschen, die in einer solchen schwierigen Situation nach jedem Strohhalm greifen, ist kein Vorwurf zu machen. Wohl aber den AnbieterInnen von Wundermitteln, die vorgeben den Rettungsring zu werfen, den sie in Wahrheit nicht besitzen. Beispiele für solche Angebote gibt es im Bereich der chronischen Leiden bei Morbus Crohn oder bei Allergien aus fast jedem Bereich der Alternativ- und Pseudomedizin. Wo die biomedizinische Forschung noch keine guten Antworten geben kann bleibt viel Platz für einfache magische Erklärungen.

    Nicht nur bei Kranken sondern auch bei Gesunden entstehen Probleme. Impfungen, eine der effektivsten medizinischen Maßnahmen und ein wesentlicher Faktor für unsere geringe Kindersterblichkeit, hohe Lebenserwartung und – relativ zu vergangenen Jahrhunderten – gute Gesundheit, werden zunehmend abgelehnt. Die Argumente sind ideologischer Natur oder beruhen auf falschen Vorstellungen über die Wirkungsweise der Immunisierung. Katalysator für diese gefährliche Impfmüdigkeit ist die Alternativ- und Verschwörungsszene. Bei Impfungen wie jener gegen die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) ist das ein individuelles Problem. Die Krankheit wird von infizierten Zecken übertragen, nicht aber von Mensch zu Mensch. Die ImpfgegnerInnen gefährden sich hier nur selbst. Anders sieht das z.B. bei den Masern aus. Der MMR-Impfstoff, der gegen Masern, Mumps und Röteln schützt, ist für Kleinkinder im 1. und 2. Lebensjahr vorgesehen. Erwachsene können die Impfung in Österreich kostenfrei nachholen. Die bisher hohen Impfraten bei dieser Immunisierung haben uns die gravierenden Folgen der Infektionskrankheiten vergessen lassen, die sie verhindert. Seit die Impfraten sinken, sind wieder vermehrt Fälle von Masern zu beobachten. Ausgangspunkt der Masernausbrüche waren in Deutschland meist Alternativschulen wie die Waldorfschule. Die Medizinskepsis ist bereits in der Ideologie ihres Gründers Rudolf Steiner angelegt, der mit der „Anthroposophischen Medizin“ selbst ein pseudomedizinisches Gegenstück zur evidenzbasierten Medizin entwickelt hatte, das bis heute in vielen Varianten fortlebt.Diese Entwicklung hin zu geringeren Impfraten, die die ImpfgegnerInnen befördern, betrifft über den fehlenden Herdenschutz die gesamte Gesellschaft. Das Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Entscheidung über den eigenen Körper (und damit auch dem Recht einen medizinischen Eingriff wie eine Impfung zu verweigern) und der Verantwortung, andere durch diese Entscheidung nicht in ihrer Gesundheit zu gefährden, ist im Bereich der unterlassenen Prophylaxe eine besondere Herausforderung für die Gesundheitspolitik.

  1. Vertrauensverlust in die Medizin und Wissenschaft: Die Ablehnung der modernen evidenzbasierten Medizin hat Folgen für ihre Verträglichkeit. Sogenannte Noceboeffekte treten dann auf, wenn PatientInnen negative Folgen einer Behandlung erwarten. Wer also fest davon überzeugt ist, dass eine Therapie zu Unwohlsein oder Schmerzen führt, kann damit rechnen sich danach wirklich schlecht zu fühlen. Analog zum Placeboeffekt führt also die Wahrnehmung der modernen Medizin als „giftig“, „bedrohlich“ oder „schädlich“ zu einer unangenehmeren und zum Teil weniger wirksamen Behandlung (z.B. bei Schmerzmitteln). Angstmache vor unbedenklichen Inhaltsstoffen ist daher nicht nur faktisch unbegründet sondern erzeugt auch reales Leid.Die Medizin als Lehre von Gesundheit und Krankheit ist wesentlich von unserem Verständnis des menschlichen Körpers, seiner Chemie, seiner Umwelt und der sozialen Einbettung des Menschen in die Gesellschaft abhängig. Ohne dieses Wissen ist eine evidenzbasierte Medizin nicht möglich. Mit der Rückkehr vorwissenschaftlicher Vorstellungen vom Körper und von Gesundheit und Krankheit wird nicht nur die Medizin als Praxis sondern auch das ganze Fundament der Wissenschaft geschwächt. Diese Wissenschaftsfeindlichkeit strahlt über die Medizin hinaus auf die Gesellschaft aus und behindert wichtige Innovationen und eine rationale Politik. Die ProponentInnen von pseudowissenschaftlichen Standpunkten sehen sich häufig selbst als Vorreiter einer „neuen Zeit“, propagieren dabei aber nur die Irrtümer der Vergangenheit. Das Schlagwort der Ganzheitlichkeit trifft am ehesten auf die moderne Medizin zu weil sie als einziges System die Krankheit von der molekularen bis zur gesellschaftlichen Ebene erfasst und ihre Komplexität anerkennt. Die Erklärungsansätze der Alternativmedizin sind dagegen häufig monokausal. Oft benutzt man dazu magische Vorstellungen von Lebensenergie, Seelen oder Auren, die sich bei dem Versuch die Welt zu erklären schon in der Vergangenheit als wenig praktikabel herausgestellt haben und deswegen in der Wissenschaft keine Rolle mehr spielen.Weitere Probleme ergeben sich aus der Schuldzuweisung an die Kranken. Die Patientin oder der Patient werden für das Scheitern der Therapie verantwortlich gemacht. Ihre mangelnde Hinwendung zum „richtigen Denken“ oder zur „reinen Lehre“ behindert die Genesung oder ist überhaupt erst Ursache der Krankheit. Hier offenbaren sich die sektenartigen Strukturen des esoterischen Teils der Alternativ(medizin)szene (s. Punkt 6).
  1. Finanzieller Schaden für die PatientInnen: Nicht alle AnbieterInnen von Pseudomedizin sind Scharlatane. Die meisten handeln tatsächlich aus dem Wunsch heraus zu helfen. Einige nicht. Bekannt geworden ist in Österreich der Fall eines bayrischen Arztes, der in Salzburg dubiose Eigenblutbehandlungen für KrebspatientInnen angeboten hatte. Der Schaden wurde vom Gericht auf 150.000 Euro geschätzt. Die Opfer waren verzweifelte PatientInnen mit Krebsdiagnose, die sich auf den Betrüger eingelassen hatten. Auch in der Esoterikszene wird mit „Heilsteinen“, magischen Wässern und Seminaren viel Geld verdient. Durch die Tatsache, dass nicht evidenzbasierte Verfahren keiner Qualitätskontrolle unterzogen werden können, ist Betrug hier besonders einfach. Niemand kann im Nachhinein nachweisen ob eine homöopathische Verdünnung wirklich auf die vorgeschriebene Art geschüttelt wurde oder die bei Vollmond gepflückten Kräuter nicht tatsächlich zu Mittag auf dem Balkon geerntet wurden. Aus Sicht des KonsumentInnenschutzes ist allein das – ganz abgesehen vom fehlenden Wirksamkeitsnachweis – problematisch.

    Es überrascht, dass gerade das Argument der Gewinnorientierung gegen Pharmaunternehmen vorgebracht wird, bei den Herstellern von Alternativmedizin aber nie genannt wird. Alternativmedizin ist ein Milliardenmarkt! Im Gegensatz zu seriösen Herstellern verkaufen die Anbieter von Wundermitteln aber nur Hoffnung und keine Medizin.

  1. Schäden auf der Ebene der Gesundheitssysteme und der Gesundheitspolitik: Durch die Finanzierung wirkungsloser Therapie entstehen Kosten für die Krankenkassen. In Oberösterreich werden z.B. die Kosten für Akupunkturbehandlungen von der Krankenkasse übernommen, in Deutschland und der Schweiz kann zum Teil eine breite Palette nicht anerkannter pseudomedizinischer Verfahren den Kassen verrechnet werden. Das wird selten mit der Wirkung sondern mit dem „Kundenservice“ argumentiert. Durch derartigen Populismus erhalten die VertreterInnen der Verfahren weiteren Auftrieb. Die Übernahme der Kosten durch das öffentliche Gesundheitssystem kommt einer Legitimierung gleich.

    Ein häufiges Gegenargument der AlternativmedizinerInnen ist der finanzielle Schaden, der auch in erheblichem Ausmaß durch überflüssige Verschreibung konventioneller Medikamente entsteht. Es handelt sich hier aber um eine Frage der Quantität und nicht um ein immanentes Problem der Therapieform. Die verschriebenen Präparate sind wirksam, sie sind nur in manchen Fällen – z.B. bei Antibiotika bei grippalen Infekten – nicht notwendig und insgesamt ist der Nutzen ihres Einsatzes trotzdem größer als der Schaden.

    Schlimmer als der finanzielle Schaden ist der Einfluss, den PseudomedizinerInnen auf gesundheitspolitische Entscheidungen nehmen können. Die katastrophale HIV-Politik Südafrikas unter Präsident Thabo Mbeki und der Gesundheitsministerin Manto Tshabalala-Msimang in den 2000ern zeigt, dass antiwissenschaftliche Positionen von einer belächelten Außenseiterposition zu einem tödlichen Problem werden können. Beeinflusst von AIDS-Leugnern und dem deutschen Alternativmediziner Matthias Rath (einem Anbieter von Vitaminpräparaten) wurden in dieser Zeit wichtige Präventionsprogramme zu Gunsten wissenschaftlich nicht haltbarer Empfehlungen aufgegeben oder nicht rechtzeitig gestartet. Die Folgen: Zwischen 2000 und 2005 starben laut einer Studie der Harvard School of Public Health 330.000 Menschen als unmittelbare Folge dieser falschen Politik an der Immunschwächekrankheit. 35.000 Kinder wurden mit dem Virus geboren, weil die Mbeki-Regierung Programme zur Prävention der Mutter-Kind-Übertragung gestoppt hatte.

  1. Nähe zu Sekten und extremistischen Positionen: Impfungen dienen dazu RFID-Chips zur Gedankenkontrolle unter die Haut zu implantieren, AIDS ist die Strafe der Natur für Homosexualität (Konz) und die Chemotherapie bei Krebs ist eine jüdische Verschwörung zur Vernichtung der arischen Rasse (Hamer). Die Pseudomedizinszene ist nicht selten eine slippery slope in ideologische Gefilde in denen die Grenzen zwischen Verhetzung und Wiederbetätigung, zwischen politischem Statement und paranoider Schizophrenie fließend sind. Geerd Hamers „Germanische Neue Medizin“, sein rabiater Antisemitismus und der mit ihm verbundene Fall Olivia Pilhar sind ein extremes Beispiel. Die Kritik an der „Schulmedizin“, die Antisemiten wie Hamer formulieren, steht in der Tradition des Begriffs der „verjudeten Schulmedizin“, die als Schlagwort von den Nationalsozialisten der „natürlichen Volksmedizin“ gegenübergestellt wurde.

    Abseits von NS-Ideologie spielen Sekten und Gurus aller Art eine Rolle. Der Personenkult um den 2013 verstorbenen Rohkostguru und Medizingegner Franz Konz, die Gründungsmythen um den Erfinder von MMS (s. Punkt 1), den ehemaligen Scientologen Jim Humble, der sich zu Weilen auch als „Bischof“ bezeichnet und die Vereinigungen, die sich auf Bruno Gröning, einen selbsternannten „Geistheiler“, beziehen, können hier stellvertretend für ein ganzes Genre genannt werden. Was in diesen Zusammenhängen angeboten wird, ist nicht nur eine Form von vermeintlicher Medizin sondern eine Weltanschauung. Aus PatientInnen werden Jünger.

    Diese Kritik betrifft nur eine Minderheit der Alternativmedizinszene. Es ist aber auch kein Zufall, dass pseudomedizinische Standpunkte ein häufiges Element von Verschwörungstheorien und Sekten sind und umgekehrt in manchem – als Alternativmedizin angebotenen Ideologiegebäude – Verschwörungstheorien und rechtsextremes Gedankengut ihren Platz finden. Ist durch die Abkehr von jedwedem rationalen Bezugssystem die Tür zu einer Welt voller Beliebigkeiten einmal aufgestoßen, ist auch der Schritt in dieses nächste Zimmer, das Gruselkabinett der rechten Alternativmedizin- und Verschwörungsszene, nicht mehr so weit.

Was ist zu tun?

Bei Verfahren, die nachweislich die PatientInnen schädigen, braucht es Verbote. Es muss auch dafür gesorgt werden, dass Gesundheitsversprechen nur dort gegeben werden, wo sich entsprechende Nachweise erbringen lassen. Bei harmloseren aber wirkungslosen Präparaten wie z.B. Hochpotenzhomöopatika oder Schüßlersalzen sind Verbote nicht zu rechtfertigen. Um PatientInnen nicht in die Irre zu führen könnten solche Mittel aber als Alternativmedizin und daher als Präparat ohne regulären Wirksamkeitsnachweis gekennzeichnet werden. Bei Impfungen gegen ansteckende Erkrankungen muss – speziell in Situationen in denen Eltern über die Gesundheit ihrer Kinder entscheiden – über Modelle einer Impfpflicht diskutiert werden.

Wichtig ist in der Debatte zwischen der Wirkung der Mittel und dem Vorsatz der Behandelnden zu unterscheiden. Wie oben erwähnt, wollen viele AlternativmedizinerInnen helfen und haben gute Absichten. Viele sind durchaus verantwortungsbewusst und empfehlen ernsthaft Kranken evidenzbasierte Behandlung. Es ist daher nicht zweckmäßig und vor allem auch nicht richtig, allen AlternativmedizinerInnen Betrug vorzuwerfen. Die Verfahren müssen aber trotzdem kritisiert und der Wirksamkeitsnachweis eingefordert werden. Aus den oben genannten Gründen muss diese Kritik eine systematische sein, die nicht nur am unmittelbaren Schaden festgemacht wird. Es gilt – um einen beliebten Begriff der Szene zu bemühen – ganzheitlich zu denken.

Als Gegenpol zur boomenden Alternativmedizinszene müssen die Akzeptanz der modernen evidenzbasierten Medizin und der ihr zu Grunde liegenden naturwissenschaftlichen Beschreibungen vom menschlichen Körper und von der Natur chemischer Verbindungen vermittelt werden. Der Widerspruch zwischen den Verfahren der Alternativmedizin und der Wissenschaft muss dargelegt werden. Wenn auch NichtchemikerInnen wissen, dass es einen Unterschied in den Eigenschaften zwischen Quecksilber und Quecksilberverbindungen wie Thiomersal gibt, dann fällt Angstmache nicht mehr auf so fruchtbaren Boden. Wichtig ist auch eine Vorstellung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen zu vermitteln. Was Paracelsus im 16. Jh. wusste, darf im 21. Jh. zur Allgemeinbildung gehören.

Darüber hinaus bildet die Pseudomedizin Wünsche von Menschen ab: Ihre Verfahren mögen absurd sein, aber die Bedürfnisse, die sie bedient sind real. Der Wunsch nach Heilung oder zumindest Linderung chronischer Krankheiten oder der Wunsch nach mehr persönlichem Kontakt mit dem Arzt oder der Ärztin und nach verständlichen Erklärungen, sind legitime Forderungen der PatientInnen. Letzteres sind Forderungen an die Gesundheitspolitik und letzten Endes sozialpolitische Prioritäten. Hier geht es z.B. um mehr Personal in Krankenhäusern, mehr Zeit für das persönliche Gespräch mit den PatientInnen beim Hausarzt und vielleicht auch um eine bessere Schulung von ÄrztInnen im Hinblick auf den Umgang mit PatientInnen.

Der Wunsch nach wirksamerer Medizin ist uralt. Er wurde und wird seit jeher gegenüber phantastischen Entitäten aller Art geäußert. Egal ob es Gott, die Quelle von Lourdes oder der Guru ist. Erfüllen können diesen Wunsch nur die medizinische Forschung und eine auf ihr aufbauende evidenzbasierte Medizin.

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